Le futur du passé

 

Zu einigen Beobachtungen von Mimi Kunz

 

Ein Foto einer für Momente vermeintlich menschenleeren Landschaft im Irgendwo einer nordischen Insel, ein Stein von eingefärbten Papier umhüllt oder in gelber Transparenz leuchtendes Wasser in einem Plexiglasaquarium  – ganz ungeachtet aller thematischen oder inhaltlichen Bezüge ist ein Kunstwerk grundsätzlich stets „Form“. Form als allgemeines Interesse bezeichnet dann nichts Bestimmtes, nichts Vorherbestimmtes nichts Gewusstes nichts final Definiertes. Form ist das maximal objektive OFFENE… Für den Moment  ist es nicht das Objekt, der Kern, das Ziel der Beobachtung – auch nicht die Freude am Anschauen. Es ist das, was in der Reflexion selbst vor sich geht. Es ist wahrgenommenes Geschehen. Nackt, pur, leer – a funky diamond.

Im Schauen auf das „Ding“ entsteht dann jenes seltsame – extrem subjektive – Empfinden, erst recht, wenn man das Zusammenspiel aller in diesem Moment wirkenden Kräfte, „den Kontext“, auch nur halbwegs komplett in Erwägung zieht. Es ist auch der Moment, in dem man beim „Machen“ innehält, einen Schritt zurücktritt, sich in den bequemen Sessel fallen lässt, der so wortwörtlich und verräterisch in vielen Ateliers steht. Es ist der Moment danach, in dem man den Moment, in dem „es passiert ist“ nachvollzieht. Die Beobachtung der eigenen Beobachtung. Dieses Wahrnehmen der eigenen Distanz lässt uns schmunzeln, schafft Befriedigung – irgendwie für Sekunden. Bis sie wieder klar vor einem stehen, die Wächter des Zweifels. An ein Abschütteln ist nicht zu denken. Warum auch? Wem es gelingt als Künstlerin oder als Künstler in jenem glücklichen Moment im Blick auf die „Form“ Lust zu empfinden, hat schon alles gehabt. Das „geglückte“ Kunstwerk, es ist immer schon ein Moment der Vergangenheit – entrissen für eine mögliche Gegenwart. 

Beim Betrachten von Kunstwerken von Mimi Kunz leuchten sie auf, sie hält sie für uns fest, jene Choreographien des Augenblicks, die seltsam zufällig anmuten, erst recht dann, wenn sie genau „gebaut“ sind. Die subjektive Beurteilung der eigenen Rezeptionsarbeit führt sie uns als jenes Bild vor, das im Haiku von Bashō, die Spur der Krähenfüße im Regen bezeichnen. In welchem Moment sind die Krähenfüße im Regen „Form“? Immer und nie, ist mit Sicherheit nicht die schlechteste Antwort (wenn man eine braucht), und nebenbei wird deutlich, dass „falsch“ gar keine Kategorie von einem Kunstwerk als „Form“ sein kann.

Mimi Kunz spielt in ihren Arbeiten so maximal frei wie es noch eben geht. Es gibt wenig „Schranken“, alles ist leicht, versucht aus sich selbst heraus nicht nur leicht zu sein, sondern vor allem leicht zu bleiben. Schwerelosigkeit als Ideal. Kant hatte das „objektiv Unbestimmte“ als Kategorie für den Formbegriff  in seiner „Kritik der Urteilskraft“ längst seziert. Mit „Geschmack“ oder „gefällt mir“ kam man schon damals aus Königsberg nicht heraus. Im Urteil über die „Zweckmäßigkeit der Form“, die sich in Schönheit auflöst, zeigt sich Zeitgeist oder auch Geschmack, aber gegenüber der Form an sich schweben unsere Überlegung in der Luft – numinos unbeschreiblich. Sachlichkeit durch selbstverordnetes Gelingen. No, please.

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die Epoche, die interessanterweise inzwischen längst zur „klassischen Moderne“ stilisiert wurde – war jenen Künstlerinnen und Künstlern, die sich als Avantgarde begreifen wollten klar, dass „klassische“ Schönheit als Dimension dessen, was noch zu tun sei, nicht mehr – überhaupt nicht mehr – nutzbringend einzusetzen ist. Zwischen „Schönheit ist das, was ohne Begriff gefällt“, und „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen“, irisiert ein Dilemma. Bei der Beurteilung dessen, was heute als „Contemporary Art“ zu sehen ist, hilft das kaum. Heute liegen viele, die meisten (?), alle (?) Kriterien längst außerhalb der Kunst: im Sponsoring eines Textilkonzerns, im Anlageportfolio eines Kunstfonds, in den Depots der Museen. Im Atelier „zwischen den Zeilen“ oder „on the road“ ist das kein Widerspruch. Was uns heute im Blick auf das Kunstwerk interessiert, die Diskurse bestimmt, die Mainstream-Kunstgeschichte zum Paradigma erhoben hat, betrifft Charakter und Wert der jeweils wirksamen, nur momentan bestimmbaren, kaum „objektiv“ erkennbaren Rahmenbedingungen. Wer nicht weiß, welche Idee die präsentierten Objekte auf den Weg gebracht hat, sieht, was wirklich zu sehen ist, aber nicht unbedingt, was gemeint sein könnte. 

Hier könnte es spannend werden, hier ist es tatsächlich noch spannend. Kunstwerke erscheinen heute – zumal im großen Spektakel der Biennalen – als lästig determinierte Objekte. Wenn ich nicht weiß, was gemeint ist, was „wirklich“ gemeint sein könnte, dann kann Weiß im komplizierten Setting sogar nicht nur Schwarz bedeuten, sondern tatsächlich Schwarz sein. In den Schweizer Alpen sind die Fremdenverkehrsbüros alarmiert, weil der Schnee für die privilegierten Snowboarder aus aller Welt nicht mehr Schneeweiß sondern durch Saharastaub „kontaminiert“ Rosa erscheint. „Nicht schlimm“, sagen die einen, „der passt doch zur lila Kuh.“ Während ein anderer warnt, „Die Gletscher schmelzen weiter“, kommentiert die dritte „Das tut nichts zu Sache – das Wasser schmeckt mir.“ 

Je intensiver, je überraschender uns ein Kunstwerk erscheint, je länger uns „Kunst“ durch ästhetische Beurteilung Freude macht, von selbst als Reiz Bestand hat, je größer die Lust am Schauen ist, desto „besser“ ist die Kunst. Das „besser“ bleibt die offene Frage: Was ist das spezifisch künstlerische Moment am Kunstwerk? Mimi Kunz formuliert unablässig solche Fragen. Ein stetes Rieseln, Diffusion … Prinzip Hoffnung.

Axel Heil